Von Hartmut Hirsch-Kreinsen | TU Dortmund – Unstrittig ist, dass sich mit der zunehmenden Verbreitung digitaler Technologien in der Arbeitswelt nachhaltige Konsequenzen für industrielle Arbeitsprozesse verbinden werden. Doch: Führt die Digitalisierung zu mehr Arbeitslosigkeit oder wertet sie Arbeit auf? Zwei Szenarien.
Im Hinblick auf die Frage nach den generell möglichen Arbeitsplatzverlusten durch den Einsatz der neuen Technologien werden teilweise sehr weitreichende negative Prognosen formuliert. Aufsehen erregte schon vor einiger Zeit eine Studie über den amerikanischen Arbeitsmarkt, der zufolge in den kommenden Jahrzehnten fast 50 Prozent aller Berufe von Automatisierung bedroht seien. Differenziertere Analysen gehen indes von wesentlich geringeren Arbeitsplatzverlusten aus. So berechnet das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, dass ungefähr 15 Prozent der Beschäftigten in Deutschland einem hohen Substitutionspotenzial durch neuen Technologien ausgesetzt seien. Gefährdet durch die Digitalisierung sind danach vor allem gering qualifizierte, routinehafte Tätigkeiten.
Insgesamt gesehen ist die Furcht vor einer menschenleeren Fabrik weit übertrieben. Allerdings werden sich auf jeden Fall die Tätigkeiten und Qualifikationen deutlich verändern.
Demgegenüber finden sich aber auch ausgesprochen optimistische Prognosen, die aufgrund der mit Industrie 4.0 verbundenen Wachstumseffekte längerfristig positive Arbeitsmarkteffekte sehen. Eventuelle kurzfristige Jobverluste werden damit kompensiert. Insgesamt gesehen ist daher die Furcht vor einer menschenleeren Fabrik weit übertrieben. Allerdings werden sich die Tätigkeiten und Qualifikationen deutlich verändern. Derzeit lassen sich hierzu allerdings kaum endgültige Prognosen formulieren. Im Hinblick auf industrielle Tätigkeiten ist von verschiedenen Szenarien der Entwicklung von Qualifikationen auszugehen.
Szenario Eins: Aufwertung von Qualifikationen
Ein erstes Szenario kann als »Upgrading« oder auch Aufwertung von Qualifikationen bezeichnet werden. In dieser Perspektive verschiebt sich das Aufgabenspektrum von Arbeit in Richtung anspruchsvoller Aufgaben wie Planung, Disposition und Systemüberwachung, da einfache Routineaufgaben in zunehmendem Maße automatisiert werden. Damit steigen die Anforderungen an ein arbeitsplatzübergreifendes Verständnis der Arbeitsprozesse sowie an die Fähigkeit, die nun verfügbaren Informationen effektiv zu nutzen. Zudem nehmen nach der Ansicht vieler befragter Unternehmen die Anforderungen an Optimierungs- und Problemlösungskompetenzen sowie generell an IT-Kompetenzen zu.
Diesem Szenario folgend treffen die Trends für fast alle Beschäftigtengruppen in der Fertigung sowie in indirekten Bereichen wie der Arbeitsvorbereitung oder der Produktionsplanung zu. Insbesondere kann das Qualifikationsniveau bislang geringqualifizierter Tätigkeiten, wie einfache Maschinenbedienung oder Logistikjobs, mit der Unterstützung digitalisierter Informations- und Assistenzsysteme gehoben und damit ganzheitlicher und anspruchsvoller gestaltet werden. Zugleich ist aber auch davon auszugehen, dass ein Teil einfacher und vor allem auch belastender Routinetätigkeiten von digitalen Systemen übernommen wird. Typisch ist hier der Einsatz smarter Robotersysteme, mit denen ergonomisch ungünstige und schwere Montagetätigkeiten automatisiert werden. Insgesamt gesehen wird daher auch von einer zukünftigen »Requalifizierung« von Industriearbeit unter den Bedingungen von Industrie 4.0 gesprochen.
Szenario Zwei: Die Mitte bricht weg
Ein zweites, gegensätzliches Szenario lässt sich als »Polarisierung« von Qualifikationen beschreiben. Der Kern dieses Szenarios ist, dass mittlere Qualifikationsgruppen wie qualifizierte Facharbeit massiv an Bedeutung verlieren. So würde sich zunehmend eine Schere zwischen komplexen Tätigkeiten mit hohen Qualifikationsanforderungen einerseits und einfachen Tätigkeiten mit niedrigem Qualifikationsniveau andererseits öffnen. Konkret sind hier die folgenden Mechanismen erkennbar:
- Einerseits entsteht eine begrenzte Zahl neuer komplexer Tätigkeiten mit gestiegenen Qualifikationsanforderungen. Ein Beispiel hierfür sind neue Planungs- und Kontrollfunktionen sowie prozessübergreifende Abstimmungsaufgaben, die zu neuen Tätigkeiten der Systemsteuerung gebündelt werden.
- Andererseits kann durch den Einsatz digitaler Technologien ein Prozess der Dequalifizierung mittlerer Qualifikationsgruppen Platz greifen. Die Gründe hierfür sind optimierte Arbeitsvorgaben, die zu einer Standardisierung und Vereinfachung bislang relativ anspruchsvoller Jobs führen. Dabei kann es sich beispielsweise sowohl um Produktionsarbeiten etwa der Maschinenbedienung aber auch um Verwaltungs- und Servicetätigkeiten auf mittleren Qualifikationsniveaus handeln.
Mittleren Qualifikationsgruppen kommt in diesem Szenario längerfristig nur noch ein nachgeordneter Stellenwert zu. Auch werden einfache Aufgaben tendenziell kaum, wie das Upgradingszenario unterstellt, durch Automatisierung und Aufwertung verschwinden. Vielmehr entstehen durch den Einsatz digitaler Technologien neue einfache Tätigkeiten mit niedrigen Qualifikationsanforderungen.
Diskussion vorantreiben
Industrie 4.0 und Arbeit 4.0 sind als betriebliches und gesellschaftspolitisches Gestaltungsprojekt mit einer Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungsoptionen zu verstehen. Wie diese Optionen genutzt werden und welche Arbeitsformen sich durchsetzen, ist naturgemäß einerseits abhängig von den strategischen Entscheidungen des Managements und der Betriebsräte der Unternehmen. Andererseits sind aber auch die Wissenschaft, vor allem aber die Sozialpartner und die Politik gefragt. Deren Rolle sollte es unter anderem sein, eine breite Diskussion über eine gesellschaftspolitisch wünschenswerte Entwicklungsrichtung von Arbeit 4.0 voranzutreiben.
Dortmund, Oktober 2016 – Foto: Daimler und Benz Stiftung, Hillig
Über den Autor
Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen ist Leiter des Forschungsgebiets Industrie- und Arbeitsforschung an der Technischen Universität Dortmund. Der vorliegende Beitrag ist ein Auszug aus einem Gastbeitrag für die Deutsche Welle, Themenwoche »Zukunft der Arbeit« 2016.