Beim Begriff Ergonomie denken die meisten Menschen heute wohl noch immer zuerst an den rückenfreundlichen Bürostuhl. Bei einer Optimierung von Arbeitsplätzen hinsichtlich der Arbeitsmittel und der Arbeitsumgebung – ob nun Schreibtisch oder Führerhaus, ob Büro- oder Montagearbeitsplatz – handelt es sich jedoch nur um einen Teilbereich der menschlichen Arbeit: um die physikalische Ergonomie. Mit der zunehmenden Digitalisierung tritt jetzt aber auch eine weitere Fachrichtung ins Scheinwerferlicht: die kognitive Ergonomie.
Die Wissenschaftler befassen sich damit, wie sich das »informatorische Umfeld« des Menschen besser gestalten lässt, d. h. wie der Mensch am besten mit technischen Systemen kooperieren oder interagieren kann. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass mitarbeitergerecht gestaltete Mensch-Technik-Systeme für bessere Leistungen, mehr Zufriedenheit und – noch wichtiger – die Gesundheit der Mitarbeiter sorgen.
Bereits in den 1980er Jahren begannen erste Forschungen in dem Gebiet, die derzeit durch Industrie 4.0 und den technologischen Fortschritt an Relevanz gewinnen und Fahrt aufnehmen. Da logistische Systeme – und insbesondere Intralogistiksysteme – zu den Vorreitern bei der Einführung von Industrie 4.0 gehören, treibt die Logistik die Forschung auch in der kognitiven Ergonomie folgerichtig voran.
Die Probleme von »informatorischer Arbeit«
Die Vernetzung der virtuellen und der physischen Welt ermöglicht neue Formen der Kooperation zwischen Menschen und Systemen sowie die Integration intelligenter Assistenzsysteme in die Arbeitsprozesse. Virtual Reality wird beispielsweise zu Schulungs- und Planungszwecken genutzt, Augmented Reality unterstützt bei Instandhaltungsprojekten. Was auf den ersten Blick nach mehr Spaß an der Arbeit klingt, führt jedoch nicht selten zu komplexeren Arbeitsabläufe, gepaart mit steigenden Informations- und Kommunikationsanforderungen. Beschäftigte sind damit neuen oder veränderten Belastungen in einer Dimension ausgesetzt, die mit der Automatisierung von Maschinen in Betrieben ab den 1970er Jahren oder dem Einzug von Computern in die Büros in den 1980er Jahren nicht zu vergleichen ist. Dabei steht in der kognitiven Ergonomie insbesondere die psychische Belastung von Mitarbeitern im Fokus, während die physikalische Ergonomie sich weiterhin eher der Vermeidung von physischen Belastungen widmet.
Je mehr Informationen auf den Menschen einströmen, umso mehr Verantwortung muss er übernehmen; umso mehr steigt die Belastung.
Schon heute zeigt sich, dass die Informationsflut, die Redundanz und die Vielzahl irrelevanter Informationen Arbeitnehmern in informationsintensiven Disziplinen große Probleme bereitet. Der Mensch muss komplexe informationsintensive Aufgaben durchdringen, fehlerfrei und genau erledigen. Je mehr Informationen aber auf den Menschen einströmen, umso mehr Verantwortung muss er übernehmen. Damit steigt der Druck – zumal angesichts immer engerer Zeitfenster. Aus dieser Fehlbelastung bzw. Überbeanspruchung folgen dann verminderte Konzentration, Unwohlsein und vermehrte Fehler.
Nicht jeder Mensch reagiert gleich auf ein informationsintensives Arbeitsumfeld. Entscheidend für den Umgang sind insbesondere die Technikbiographie des Einzelnen, seine Einstellung zur Technik und seine Bereitschaft, mit neuen Technologien umzugehen. Das heißt: Wie bewertet der Mensch den technologischen Fortschritt, welche Erwartungen verbindet er mit neuen Technologien? Hat er den Eindruck, dass ihn eine neue Technologie weiterbringt oder dass sie ihn im Gegenteil hemmt, dass er sie kontrolliert oder sie ihn? Genau diese Faktoren sind Gegenstand der Untersuchungen in der kognitiven Ergonomie.
Also doch Couch?
Effektivität und Effizienz verbessern
Der zentrale Forschungsgegenstand der kognitiven Ergonomie ist es, Grundlagen für eine »beanspruchungsoptimale Gestaltung« von Industrie 4.0-Systemen für den Menschen zu erreichen. Denn der Mensch wird auch in Zukunft ein unverzichtbarer Bestandteil der Social Networked Industry sein, jener Weiterentwicklung von Industrie 4.0, deren Vorbild soziale Netzwerke sind. Er wird jedoch weiterhin ständigen technologischen Veränderungen unterliegen, die sich direkt und indirekt auf die Art und Qualität der Arbeit auswirken.
Mithilfe kognitiver Ergonomie kann die menschliche Leistung so optimiert werden, dass sich Effektivität und Effizienz des Mensch-Technik-Systems grundsätzlich verbessern. Damit kann die Logistik von der Psychologie und ihren Erkenntnissen, Erfahrungen und Methoden aus dem Erleben und Verhalten von Menschen nur profitieren – und das dann doch ganz ohne Couch.
Dortmund, November 2017
Über die Autorin
Dr. phil. Dipl.-Psych. Veronika Kretschmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML. Ihre Studien zur kognitiven Ergonomie führt sie im Rahmen des Leistungszentrums Logistik und IT sowie des Innovationslabors durch.